Die Brandrede Gaucks zum Armenier Gedenken
Am 23. April hielt Bundespräsident Gauck in einem ökumenischen Gottesdienst die Gedenkrede zum 100. Jahrestag der armenischen Tragödie im damaligen Osmanischen Reich. Die Aufmerksamkeit war schon vorher auf nur ein einziges Wort konzentriert: Völkermord. Nachdem es der Papst ausgesprochen hat und das Europaparlament, hat es auch der Bundestagspräsident und der Bundestag in einer angekündigten feierlichen Erklärung ebenfalls. Die Debatte um den moralischen Imperativ hatte innenpolitisch keine Gegner mehr. Die Rede Gaucks war nur noch der Höhepunkt einer inszenierten Kampagne, angekündigt über einen medialen Trommelwirbel, um noch einmal die Aufmerksamkeit auf das Wort zu lenken. Eine mediale Inszenierung, bei der es nur noch darum ging, das Wort zum richtigen Zeitpunkt, durch den richtigen Mann mit der denkbar größten politischen Sprengkraft in den internationalen Beziehungen zu plazieren. Am Ende blieb nur noch ein resignierter Außenminister Steinmeier zurück, der sagte, ,,Ich bin Debatten leid, bei denen erwartet wird, dass ich über ein mir hingehaltenes Stöckchen springen soll, obwohl doch alle wissen, die Fragenden wie die Antwortenden, dass komplexe Erinnerungen selten auf einen Begriff zu bringen sind.”
Die Rede …
Die Komplexität des Geschehens und des Erinnerns spielte in der Rede Gaucks keine Rolle. Nach ihm ist alles ganz einfach. Bei einem Volk, von dem man im Allgemeinen nicht mehr weiß, als dass es das christliche Abendland bereits zweimal kurz vor Wien ernsthaft in Bedrängnis gebracht hat, und dessen Geschichte in den Schulbüchern nicht auftaucht, dessen Geschichte ist ein weißes Blatt, auf das auch der Bundespräsident seine Projektionen frei assoziieren kann, ohne von der medialen Öffentlichkeit der Geschichtsfälschung bezichtigt zu werden. Und so erlaubt sich der Bundespräsident, die dunkelste Seite der deutschen Vergangenheit auf dieses weiße Blatt der türkischen Geschichte zu projizieren.
Er gedachte der Armenier, die ,,zu Hunderttausenden Opfer von geplanten und systematischen Mordaktionen geworden sind.” und lieferte dafür seine geschichtliche Erklärung.
,,Diese geplante und kalkulierte verbrecherische Tat traf die Armenier aus einem einzigen Grund: weil sie Armenier waren.”
,,Die jungtürkische Ideologie” sagt er, suchte die Alternative ,,im ethnisch homogenen, religiös einheitlichen Nationalstaat (…) Trennung nach Volksgruppen, ethnische Säuberungen und Vertreibungen bildeten Anfang des 20. Jahrhunderts oftmals die düstere Seite der Entstehung von Nationalstaaten. Aber Einheits- und Reinheitsideologien enden nicht selten im Ausschluss und Vertreibung und in letzter Konsequenz in mörderischer Tat. Im Osmanischen Reich entwickelte sich daraus eine genozidale Dynamik, der das armenische Volk zum Opfer fiel.”
Alles, was Gauck soweit sagt, ist richtig – wenn man statt von den Armeniern von den europäischen Juden spricht und das Osmanische Reich durch das ,,Dritte Reich” ersetzt. Für die Geschichte des Osmanischen Reichs stimmt davon nicht viel.
Um die Assoziation perfekt zu machen, begründet der Bundespräsident auch noch, warum wir über den armenischen Völkermord reden müssen:
,,Wir reden davon! ( … ) Wir tun dies, damit Hitler nicht Recht behält. Und wir tun es, damit kein Diktator, kein Gewaltherrscher und niemand, der ethnische Säuberungen für legitim hält, erwarten kann, dass man seine Taten ignoriert oder vergisst.”
Sicher, der Bezug zu Hitler war geschickt an ein Zitat geknüpft, durch das diese Aussage rein sprachlich einen gewissen Sinn ergibt. Aber Gauck ging es vor allem um die Assoziation mit dem Gewaltherrscher. Aber wer soll denn eigentlich der osmanische Hitler, der Gewaltherrscher und Diktator im untergehenden Osmanischen Reich gewesen sein? Und was weiß Gauck und der durchschnittliche Hörer seiner Rede von der Ideologie der Jungtürken?
…und die Geschichte
Richtig ist, dass ethnische Säuberungen und Vertreibungen den Prozess der Entstehung europäischer Nationalstaaten begleiteten. Die Türkei war in ihrer Vor- und Entstehungsgeschichte in diesem genuin europäischen Prozess davon nicht ausgenommen. Im Zuge des aufkommenden Nationalismus auf dem Balkan wurde die dortige türkisch-muslimische Bevölkerung Opfer solcher ethnischer Säuberungen. Noch schlimmer traf es in der zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die (muslimische) tscherkessische Bevölkerung an der Schwarzmeerküste, die massenhaft den Massakern durch die russischen Eroberungsfeldzüge und der vollständigen Vertreibung zum Opfer gefallen ist. Ausgelöst wurde das Nationalitätenproblem nicht aus dem Innern des (türkisch beherrschten) Osmanischen Reichs, sondern eher durch den aufkommenden Nationalismus der Völker des Vielvölkerreichs, also bspw. des Nationalismus der Balkanvölker, des arabischen Nationalismus und eben auch des armenischen. Insofern gleicht der Zerfallsprozess des Osmanischen Reichs eher dem Untergang des Habsburgerreichs, als er Parallelen zu dem Aufstieg des deutschen Nationalismus und Nationalsozialismus aufweist. Mit dem bemerkenswerten Unterschied zum Habsburgerreich, dass schon damals die Westmächte das nationalistische Aufbegehren der Völker zielstrebig zur Destabilisierung des multikulturellen osmanischen Vielvölkerreichs unterstützten. (Bespiel: Lawrence von Arabien).
Die armenische Tragödie gehört aber strenggenommen nicht in diesen historischen Kontext. Denn die vielfältigen und teils divergierenden Oppositionsbewegungen, die unter die Sammelbezeichnung Jungtürken fallen, hatten vor allem das auch aus dem europäischen Exil genährte Ziel, gegen die autoritäre Herrschaft des Osmanische Sultanats die Wiedereinsetzung der Verfassung von 1876 zu erkämpfen sowie ,,die Versöhnung und Zusammenarbeit mit den nationalen Minderheiten.” (Udo Steinbach, langjähriger Direktor des Deutschen Orientinstituts) Und damit eben gerade nicht die Ausgrenzung. In ihrer Opposition gegen Sultanat und Absolutismus hatten sie in dem armenischen Nationalismus so etwas wie einen natürlichen Verbündeten. Die 1894 gegründete osmanische Gesellschaft für Einheit und Fortschritt (jungtürkisches Komitee) fiel politisch erstmals auf mit den organisierten Protesten gegen die Armenier Pogrome 1895 . Andere antiabsolutistische Oppositionsbewegungen, wie der ,,Erste Kongress der osmanischen Liberalen” 1902, setzte sich aus Delegierten der wichtigsten Nationalitäten zusammen (darunter die Armenier) und forderten Reformen ,,nicht für dieses oder jenes Volk oder diese oder jene Religionsgemeinschaft, sondern ausnahmslos für alle Osmanen.” Ein Problem der türkischen Oppositionsbewegung bestand jedoch darin, dass sich die ebenfalls oppositionellen Nationalitäten wegen ihres eigenen Nationalismus und Unabhängigkeitsbestreben zunehmend von ihr abwandten, so namentlich der armenische und arabische Nationalismus.
Der türkische Nationalismus, der in Gestalt der Jungtürken im wesentlichen säkular und revolutionär-demokratisch ausgerichtet war, hatte niemals eine nennenswerte Strömung oder einen nennenswerten Führer hervorgebracht, der sich auf die ethnische Reinheit oder gar Rasseneinheit des Türkentums bezogen hätte. Ansätze eines Panturanismus, der sich auf die Einheit der altaischen Völker (Turkvölker) bezogen hat, hatte sich weder im untergehenden Osmanischen Reich noch in der Türkei jemals durchgesetzt. Da die türkisch demokratische Exilopposition sich traditionell wesentlich aus den Ideen der französischen Revolution nährte, hat der türkische Nationalismus auch Ähnlichkeit mit dem französischen Staats- und Nationenverständnis, der das Gegenteil von Ausgrenzung ist. (Türke ist, wer türkischer Staatsbürger ist.) Wegen dieses Verständnisses steht der türkische Staat noch heute in der Kritik, weil er etwa die Kurden als türkische Staatsbürger ansieht und nicht nach ethnischer Herkunft differenziert.
Der Fanatismus oder das Risiko, eine ganze Nation zu beleidigen
Der Bundespräsident hat in seiner Rede noch gesagt, Täter früherer Tragödien (der Bundespräsident redet von rassistisch, ethnisch oder religiös motiviertem Massenmord) waren alle auf fanatische Weise von der Richtigkeit ihres Handelns überzeugt. In seiner Allgemeinheit ist diese Aussage richtig und ernst zu nehmen. Die Lehre daraus besteht in der kritischen Distanz zu den eigenen Glaubensüberzeugungen. Denn der Fanatismus beginnt im Kopf zumeist mit der völligen Ignoranz gegenüber den historischen Tatsachen. Wenn ein deutsches Staatsoberhaupt meint, einer anderen Nation vor der gesamten Weltöffentlichkeit eine moralische Standpauke halten zu müssen und bewusst die Vergiftung des politischen Klimas zwischen den Völkern herbeiredet, dann muss er genau wissen, was er tut und was er sagt.